MARK POLSCHER
ANAKOLUTH
marc aurel edition
2CD Box set
MA 20043

Das Glück und Unglück aller Tage

Release Notes von Rainer Nonnenmann


Die Anfänge der elektroakustischen Musik nach dem Zweiten Weltkrieg überschattete der Grundsatzstreit zwischen der Elektronischen Musik und der Musique concrète, wie sie in den Studios von Köln und Paris die führenden Komponisten Karlheinz Stockhausen und Pierre Schaeffer vertraten. Heute ist dieser Richtungsstreit längst historisch und Komponisten nutzen selbstverständlich beide Ans ätze und deren Kombinationsmöglichkeiten. Bereits Stockhausen hatte 1956 in seinem frühen elektronischen Meisterwerk Gesang der Jünglinge nach dem Vorbild seines französischen Antipoden die Gesangs- und Sprachklänge einer Knabenstimme einbezogen und 1960 in Kontakte elektronische Klänge mit live gespielten sowie elektronisch verarbeiteten konkreten Klavier- und Schlagzeugkl ängen verschmolzen.
            Auch Mark Polscher verbindet die relative Fremdheit der elektronischen Klangwelt mit der verhältnismäßigen Vertrautheit von Natur- und Menschenlauten, Fabrikations- und Zivilisationsgeräuschen sowie Klängen unterschiedlicher Materialien, Alltagsgegenständen und herkömmlicher Musikinstrumente. Indem er die Aufnahmen konkreter Klänge teils bis zur Unkenntlichkeit verarbeitet und rein elektronische Klänge kreiert, die ebenfalls Assoziationen an die medialisierte, technifizierte Lebenswelt wecken, schafft er alle möglichen Übergänge zwischen Verfremdungen und bloßen Wiedergaben beziehungsweise zwischen „abstrakten“ Klanglichkeiten und „konkreten“ Alltagsklängen, die den Hörer in außermusikalische Kontexte führen. Entscheidend ist jedoch, dass Polscher Elektronik und konkrete Klänge nicht bloß additiv begreift, sondern als Mittel einer Wechselwirkung, bei der die elektronischen Klänge den Alltagskontext der konkreten Klänge auch neutralisieren und umgekehrt die konkreten Klänge die elektronischen zuweilen so auratisch und assoziativ aufladen, dass auch sie zu sprechen beginnen.

Polschers jüngstes und bis heute umfangreichstes Werk ist Anakoluth . Die elektroakustische Komposition dauert eindreiviertel Stunden und gliedert sich in vier „Zonen“ mit insgesamt 25 „Bereichen“. Sie entstand 2005 und 2006 und wurde bis 2009 mehrmals überarbeitet und neu abgemischt. Gleich der 1. Bereich Bonjour Madame der ersten Zone It Ain´t Me exponiert die Mehrschichtigkeit dieser Musik mit einem signalartigen Thema aus sanft verhallten, gesampelten Glockenklängen eines Analog-Synthesizers, die im weiteren Verlauf mehrmals als zentrales Strukturierungszeichen des Gesamtwerks wiederkehren. Hinzu kommen aggressiv sirrende Impulse, die zunächst als Störung erlebt werden, sich aber bald als rhythmische Parallelstimme zu den drei Glockenspuren erweisen. Ihre klangliche Konkretion finden die Glockensamples gegen Ende des Abschnitts in Aufnahmen realer Glocken. So wird rückwirkend die eigentliche Herkunft der Klänge zu erkennen gegeben und zugleich der anfängliche Kontrast zu einer multidimensionalen Heterophonie geweitet. Die Musik verzweigt sich zu komplexen Texturen, bei denen der Hörer oft fünf, sechs und mehr Schichten sowohl einzeln für sich als auch wechselseitig aufeinander bezogen als polyphone Gesamtheit zu verfolgen hat.
            Polscher zielt in Anakoluth auf materiale und formale Einheit in der Vielheit, ohne die Individualität des Vielen durch strenge Strukturierung des Einzelnen zu glätten. Der Komponist liebt kon trastreiche Zusammenstellungen. In Bereich 3 A Cold Spell around June 11 legt er über einen funkartig zuckenden Bass blubbernde Wasserblasenklänge, gummiartiges Schnurren, fernes Rattern einer Maschine, meckerndes Schafsblöken sowie versprengte Flötentöne, die sich im nachfolgenden Abschnitt zur metallisch hauchigen Melodie weiten, von der sich kaum feststellen lässt, ob sie von einer Flöte, einer Orgel oder einer leisen Frauenstimme stammt. Die Musik strahlt Weite und Ruhe aus, und ist doch ständigen Veränderungen, Spannungen und Wechseln ausgesetzt.
            Durch akustische Tiefenstaffelung der Ereignisse sorgt Polscher für möglichst klare Unterscheidbarkeit der Materialebenen, damit sich deren Polyphonie auch bei größter Dichte noch durchhören lässt. Zudem suggerieren dynamische und räumliche Abstufungen unterschiedliche Hör- und Assoziationsräume. So entstehen nicht nur Eindrücke wechselnder Akustiken und Nachhallzeiten, sondern zugleich Impressionen von Räumen und ganzen Landschaften, durch die sich die Ereignisse mal nah und fern, mal schnell und langsam bewegen. Manche Passagen sind großes Hörkino! Polscher kommen dabei seine Erfahrungen als Komponist von Film- und Theatermusik zu gute, wo es ebenfalls darum geht, mit akustischen Einstellungen charakteristische Stimmungen, Situationen und Räume zu gestalten. So wähnt sich der Hörer von Anakoluth zuweilen im beengten Inneren einer trockenen Keksdose, dann wieder frei schwebend im riesigen Sakralraum einer von Licht und Klang durchfluteten gotischen Kathedrale.

Die Kombination elektronischer und konkreter Klänge ist Teil von Polschers erweitertem Material- und Musikverständnis. Für ihn kann prinzipiell alles zu Musik werden: wummernde Slot Machines, Flipper- und Spielautomatengeklingel, plärrende Popsender, Hundegebell, Schritte im Schnee, Werkzeuggeklapper… Dennoch hat sein universalistischer Musikbegriff nichts mit dem radikal ausgeweiteten Musikverständnis John Cages zu tun, der in seiner New Yorker Wohnung nur die Fenster zu öffnen brauchte, um den hereindringenden Großstadtlärm als Musik zu hören. Statt die Gesamtheit dessen, was sich gerade zufällig ereignet, zu Musik zu erklären, trifft Polscher eine bewusst gestaltete Auswahl. Denn gerade weil er ein äußerst breites Klangspektrum favorisiert, folgt er der Einsicht, für jedes Stück und jeden einzelnen Abschnitt eine klare Beschränkung vornehmen sowie den kulturellen und oft genug auch außermusikalischen Verwendungszusammenhang der Klänge mitdenken zu müssen. Indem er die konkreten Klänge elektronisch verarbeitet, in Loops schickt, zu Schichten bündelt und zu spannungsvollen Texturen zusammenfügt, können sie trotz ihrer nach wie vor durchscheinenden alltagsweltlichen Herkunft auch rein musikalisch gehört werden.
            In Anakoluth treibt Polscher mit den Klängen und ihrer Herkunft ein regelrechtes Versteckspiel aus Maskieren und Aufdecken, Verhüllen und Offenlegen, Verkleiden und Bloßstellen. Mit einer Art „Sound-Morphing“ lässt er einen Parameter in den nächsten mutieren, um einen Klang aus einem ganz anderen herauszudrehen und wieder in seinen Ausgangspunkt zurückgleiten zu lassen. Am Schluss des 1. Bereichs Asunder der dritten Zone And So They Come lässt er eine U-Bahn durchs Klangbild fahren. Die über Gleisfugen ratternden Räder und das metallische Sirren der Oberleitungen fügen sich in das rhythmische Pulsieren wummernder Techno-Sounds mit Basseinschlägen und aufgekratztem Hochspannungsknistern und legen zugleich die konkrete Herkunft dieser Klangfarben offen. Die Hauptschicht des 3. Bereichs Strait is the Gate and the Road is Hard derselben Zone bilden Quietschtöne wie von Turnschuhen, als lausche man den Dribbling-Trockenübungen eines Basketball-Spielers ohne Ball. Bereich 5 The Fair Waste der vierten Zone Oneness bringt inmitten kühler Maschinen- und Elektronik-Sounds kurz das halb verwischte Fragment eines Country-Songs, so als habe der Hörer eine Halluzination oder Wahrnehmungsstörung. Und der 2. Bereich We Neither Reap nor Store Away in Barns derselben Zone suggeriert mit rhythmischen Folgen startender Elektromotoren das Bild eines etwas schwerfällig und ungelenk tanzenden Roboters. Kaum hörbar in die Techno-Nummer versteckt sind Sprach- und Atemgeräusche einer Frau. Mensch und Maschine camouflieren sich wechselseitig zum zischenden, seufzenden Androiden.

Die Heterogenität und stilistische Vielstimmigkeit von Anakoluth ist Ausdruck von Polschers wechselvoller Karriere, die in verschiedenen Kurven und auf mehreren parallelen Seitenwegen verlief. Sein Stück folgt einer Ästhetik des Augenblicks. Dabei meint der griechisch-lateinische Titel Anakoluth soviel wie „ohne Zusammenhang“ oder „unpassend“. In der Medizin und Linguistik beschreibt der Begriff eine Redeweise, bei der der Sprechende die Grammatik eines Satzes fortwährend durch Einschübe und Neuansätze sprengt, so dass der Inhalt des Gesagten für einen Außenstehenden kaum oder überhaupt nicht mehr nachzuvollziehen ist, obgleich der Sprechende selbst nur den syntaktischen Faden verliert, nicht aber den inhaltlichen, an dem er gedanklich festhält. Diese anakoluthische Redeweise adaptierte Polscher als Gestaltungsprinzip für sein gleichnamiges Stück sowohl in formaler Hinsicht durch die scheinbar alogische Aufeinanderfolge unterschiedlicher Bereiche als auch durch die Gleichzeitigkeit, mit der hier heterogene Ereignisse aus verschiedenen Lebens- und Musiksphären aufeinander treffen. Die Vielzahl der Materialien führt zu F eingliedrigkeit und einer entsprechend anekdotischen Hörweise, bei der jeder Moment eine eigene Geschichte zu erzählen scheint. So bilden die 25 Bereiche der Komposition eine Art Konvolut verschiedenster Klang- und Hörsituationen.
            Zugleich gibt es bei allen Diskontinuitäten auch durchgängige Entwicklungsstränge und zyklische Verbindungselemente. So erscheinen bestimmte ikonographische Klangelemente wie Glocken, Vogelgezwitscher und Hundegebell in mehreren Bereichen. Manche Elemente werden unverändert eins zu eins wiederholt. Sie schaffen formalen Zusammenhang und erscheinen dennoch im jeweils veränderten Kontext als etwas Anderes. So sind zu Beginn der zweiten Zone Rotorgeräusche von vier Hubschraubern zu hören, die durch warm aufblühende Synthesizer-Texturen schweben und dem Hörer die Vorstellung suggerieren, als flöge er mit einem Helikopter durch wechselnde Atmosphären, Energiezustände, Wärmeregionen, Farbschichten, Klang- und Wetterlagen bis der Flug unvermutet an der klappernden Drehbank eines Schlossers endet.
            Entgegen dem im Werktitel benannten Verfahren, einer Satzkonstruktion scheinbar verbindungslos eine andere einzufügen oder folgen zu lassen, entfaltet Polschers Stück durchaus so etwas wie eine episch-symphonische Großform. Sein 105-minütiges Werk ist die Summe und vorläufiger Höhepunkt seines bisherigen elektronischen Komponierens. Indem er hier Erfahrungen beim Musikmachen und Musikhören aus fast vierzig Jahren zusammenführt, ist Anakoluth auch ein persönliches Klangtagebuch mit autobiographischen Zügen. Polscher kombiniert dabei nicht einfach nur verschiedene Stilistiken, sondern gestaltet vielmehr die von ihm mit Rock, Pop, Folklore, Schlager, Techno, Jazz und Improvisation verbundenen Lebensphasen und Lebensgefühle für sich neu, um sie auch dem Hörer neu erlebbar zu machen. Und im Gegensatz zu seinen beiden letzten CD-Veröffentlichungen, der rein elektronischen Komposition Automatik von 1999 und der Oper Die mechanische Braut für elektroakustisches Ensemble von 2002, deren „Sektoren“ beziehungsweise „Szenen“ er einfach nur durchnummerierte, gibt er den „Zonen“ und „Bereichen“ von Anakoluth nun individuelle, teils sehr private Titel.

Polscher vertritt in Anakoluth einen Kompositionsansatz, der nicht auf konzeptionelle Überlegungen sowie materiale und formale Konstruktionen verzichtet, wie die vier Varianten einer zentralen „Gestalt“-Melodie zeigen, die jeweils einer der vier Zonen des Stücks zugrunde liegen. D iese Musik geht primär von persönlichen Hör- und Musikerlebnissen aus, die auch für das Publikum im Mittelpunkt stehen sollen. Polschers zentrales Anliegen ist es, den Hörer die Musik „nacherleben“ zu lassen. Tatsächlich wirkt die Vielstimmigkeit von Anakoluth als Auslöser für räumliche, atmosphärische, stimmungshafte und semantische Vorstellungen. Die Intertextualität, Bildhaftigkeit und Assoziationsgeladenheit der Musik weitet das Hören zur audio-visuellen Imagination. Dabei wird der Hörer eingeladen, beim Hören zugleich auch die Prägungen und Entwicklungen des eigenen Wahrnehmens zu beobachten. So mag der beim Hören sich selbst beobachtende Hörer die Feststellung machen, dass es beim Musikhören stets um mehr geht als nur um das Hören von Musik. Denn wie der Begriff schon andeutet, zielt „Wahrnehmen“ immer auch auf Verstehen- und Erkennenwollen, auf ästhetische Einordnung, lebensweltliche Orientierung, inhaltliche Deutung und in Folge dessen auch auf so etwas wie selbstreflexive Positionierung und existenzielle Selbstverortung des Wahrnehmenden in seiner Umwelt. Gerade weil wir heutzutage vor allem von optischen Reizen als telegen geformte Augenwesen angesprochen werden, vermag uns die Welthaltigkeit und Vielstimmigkeit von Polschers Musik bewusst zu machen, wie intensiv und fundamental wir immer noch von unserer akustischen Umgebung geprägt sind und wie sehr wir uns trotz der täglich auf uns einströmenden Bilderflut nach wie vor hörend die Welt erschließen und uns hörend darin bewegen.
            Die Verbindung des an sich zusammenhanglosen Klangspektrums von Anakoluth wirkt wie ein Sinnbild des menschlichen Lebens. Das anakoluthische Gestaltungsprinzip dieser Klang- und Hörgeschichte folgt dem Umstand, dass sich jeder Mensch zu verschiedenen Phasen seines Lebens in wechselnden sozialen, kulturellen und musikalischen Zusammenhängen bewegt. Obwohl keine Lebensplanung das Glück und Unglück aller Tage zu erfassen vermag, fügen sich dennoch alle Wechselfälle des Lebens nach und nach zur anakoluthischen Gesamtheit eines Lebenslaufs. In gleicher Weise integriert Polscher seine Berührungen mit verschiedenen Klängen und Musikformen. Bei aller Subjektivität seiner persönlichen Erlebnisse mit bestimmten Klängen, Geräuschen und Musikstilen handelt es sich zugleich um Klänge des kollektiven Gedächtnisses, die im europäischen Kultur- sowie deutschen und englischen Sprachraum über eine intersubjektive allgemeine Bedeutung verfügen und insofern auch von anderen Menschen ähnlich erlebt beziehungsweise „nacherlebt“ werden können. Damit wird durch den Blickwinkel privater Erfahrungen Anakoluth zugleich zu einem Spiegel und Stimmungsbarometer des hörbaren Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

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